Kunst und Kontext im Stadtlabor Berlin-Moabit

GASTARBEITERINNEN
2023

Ausstellung
Hyon-Soo Kim, Antonia Low, Anette Rose, Nicole Schuck, Andrea Stahl, Michaela Zimmer
kuratiert von Simone Zaugg und Pfelder
1. – 17. September 2023

Die Ausstellung GASTARBEITERINNEN im Projektraum Kurt-Kurt bietet viele Einstiege in diverse Themenfelder wie Arbeit, Kunst, Frau, Gast, Moabit u.v.a.m.. Die eingeladenen Künstlerinnen Hyon-Soo Kim, Antonia Low, Anette Rose, Nicole Schuck, Andrea Stahl und Michaela Zimmer untersuchen die unterschiedlichen Aspekte dieses vielschichtig lesbaren und interpretierbaren Titels mit ihren künstlerischen Arbeitsstrategien und Medien von Zeichnung, Film, Skulptur über Rauminstallationen bis Performance.

Erfolgreich stellen die Künstlerinnen international aus und reisen durch die Welt. London Paris New York Seoul Montreal Tokio. Überall treten sie als temporäre Gastarbeiterinnen auf und hinterlassen künstlerische Werke in Ausstellungen. Sie sind mit Ihren Arbeiten zu Gast in Museen, Kunstvereinen, Galerien, an Biennalen oder präsentieren ihre Arbeiten im öffentlichen Raum. Doch wo sind die Menschen hinter diesen Bildern? Wo und wer sind die Künstlerinnen?

Ein zentraler Aspekt der Ausstellung GASTARBEITERINNEN ist die Betrachtung der zeitgenössischen Figur der Künstlerin als einer Pendlerin zwischen Migration, permanenter künstlerischer Gastarbeit und ihrer Verortung an einer bewusst gewählten festen Basis hier in Berlin. Die Künstlerinnen sind es gewohnt, ihre Arbeit an fremden Orten weiterzuführen und zu reflektieren. Die Arbeit als eingeladener Gast in fremden Umgebungen gehört zu ihrem Beruf. Es ist ihnen bekannt, dass Kunst im Austausch und in der Begegnung mit dem Anderen und Fremden das Eigene in seiner Unverwechselbarkeit wahrnehmbar macht und hervortreten lässt. 

Darüberhinaus wirft das Thema Gastarbeiterinnen viele Fragen auf, die unsere Gesellschaft aktuell beschäftigen: z.B. in Bezug auf den Fachkräftemangel oder den Klimawandel und damit verbundene „Gastarbeiterinnen“ wie Tigermücken, Zecken etc. oder Migration auf Zeit wegen Kriegen, Klimakatastrophen und politischer Unterdrückung. 

Aber auch die Kunst im Kontext des Stadtlabors Moabit schwingt im Titel GASTARBEITERINNEN mit. Während der 1960er Jahre, als Deutschland gezielt Arbeitskräfte vor allem in den südlichen Ländern Europas und der Türkei angeworben hat – in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist männliche ­– kamen auch viele Frauen nach Moabit, wohnten in Frauen-WGs in der Nähe, z.B. an der Siemensstraße, und arbeiteten bei Siemens oder AEG, Telefunken, DeTeWe und in vielen mittelständischen Textilunternehmen.

Die Ausstellung GASTARBEITERINNEN diskutiert das komplexe Thema, oszillierend zwischen Gast und Arbeit, und präsentiert dazu sechs unterschiedliche künstlerische Positionen von Hyon-Soo Kim, Antonia Low, Anette Rose, Nicole Schuck, Andrea Stahl und Michaela Zimmer.

Zug (an/aus) (2023) von Michaela Zimmer

Michaela Zimmers ephemere Intervention infiltriert sich präzis in die Räume von Kurt-Kurt. Ihre Malerei-Objekte hängen, stecken oder liegen dort, wo ihnen die Räume eine Andockungsstelle bieten. Inhaltlich stellen sie Passagen dar zwischen Arbeitskleidung und Kunstobjekt und involvieren die Betrachter*innen auch physisch in das Thema, da der Mensch seit je her Hüllen benutzt, um sich zu schützen, zu schmücken, zu inszenieren und zu definieren.

Bodenmomente (2016), Was bleibt (2023) von Antonia Low

2016 war Antonia Low von der RAG eingeladen, die letzten Bodensituationen in der Zeche Auguste Victoria in 886 m Tiefe einige Wochen vor deren Schließung zu dokumentieren. In Zusammenarbeit mit wenigen verbliebenen Bergleuten wurde der Boden in der 4. Sohle an ausgewählten Bereichen abgeformt, um so unwiederbringliche Arbeitsspuren des Steinkohleabbaus festzuhalten und an die Oberfläche zu holen. Nun steht eine der 1 x 1 m großen reliefartigen „Bodenplatten“ leicht angelehnt an der Wand und gibt Zeugnis der vergangenen Arbeitswelt unter Tage.

In ihrer Installation Was bleibt hat Antonia Low zudem die Arbeitssituation der zu dieser Ausstellung eingeladenen Künstlerinnen vor der Eröffnung festgehalten und abstrahiert: umherstehendes Arbeitsutensil, Gerätschaft und Verpackung erzählen über den 24/7-Aufbau im Projektraum und über einen Zustand bleibender Auseinandersetzung mit der künstlerischen Arbeit.

fragil (2023) von Nicole Schuck

Die Künstlerin begibt sich bewusst in die Habitate von Tauben, um diese individuell kennenzulernen und ihnen zeichnerisch einen Raum zu geben, in dem sich bildliche Narration und Dokumentation verbinden. Darüberhinaus stellen die vier Zeichnungen aus der Gesamtinstallation fragil die Frage, wer ist bei wem zu Gast. Gerade diese Frage gilt es nicht nur in Bezug auf Tauben und Künstler*innen zu überwinden und Formen der Kohabitation von Mensch und Tier zu finden. Ein weiterer interessanter Aspekt in Bezug auf das Thema der Gastarbeiterinnen ist die Tatsache, dass Tauben als „Gastarbeiterinnen“ in alle Welt verschickt werden, um als Brieftauben zu arbeiten.

Home sweet Home (2020) von Hyon-Soo Kim

Ob als Künstlerin, Näherin, Sekretärin, Professorin, Kellnerin, Agraringenieurin suchen wir alle nach einem Zuhause. Alle Menschen, die migriert sind, wissen wie vielschichtig der Prozess ist, eine neue Basis aufzubauen. Hyon-Soos Installation zeigt uns in einem dreidimensionalen Bild wie fragil, verbunden, farbig, verletzlich und grenzenlos, offen, endlos unsere Wege nach „Hause“ sind. Gleichzeitig spielt Ihre Arbeit auch auf die Geschichte Moabits an. Friedrich Wilhelm I. siedelte im Jahr 1717 Hugenott*innen als Gastarbeiter*innen an mit dem Auftrag, Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht zu kultivieren.

Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #23 stricken – high speed (2016) von Anette Rose

Das Einkanalvideo von Anette Rose zeigt uns mit mehreren tausend Bildern pro Sekunde die sehr verlangsamten Abläufe einer industriellen Rundstrickmaschine, die wir mit bloßem Auge gar nicht wahrnehmen könnten. Diese slow motion Aufzeichnungen, die im Textilinstitut der RWTH Aachen gefilmt wurden, isolieren und dehnen den maschinellen Akt des Strickens. Eine Tätigkeit, die stark mit Frauen verbunden wird: Frauen, die zum Vergnügen stricken. Frauen, die Gegenstände wie Kleidung, Decken etc. stricken. Frauen, die zum Gelderwerb stricken. Inwieweit diese Gedanken in der Videoarbeit von Anette Rose mitschwingen, entscheiden die Betrachter*innen selbst. Der Fokus liegt auf dem maschinellen Prozess und der Transformation von Hand- in Maschinenarbeit, die den Menschen, traditionell die Frau und die „Gastarbeiterin“ ersetzen oder erlösen?

Echte Wespen (2023) von Andrea Stahl

Als Gast arbeitet Andrea Stahl im hinteren Raum von Kurt-Kurt und schafft dort eine raumbezogene Video-Bild-Installation. Unterstützt von Wespen, die sie als „Gastrabeiter*innen“ in den Prozess involviert, lässt sie ein dichtes Bild aus verschiedenen Ebenen, Materialien, Medien, Licht und Projektion entstehen. Während die Wespen ihre Arbeit des Füttern der Brut unbeeindruckt von starkem Regen fortführen, interagiert die Künstlerin zwischen Raum und Intervention und schafft Übergänge, die zwischen konkreter, inszenierter und projizierter Situation, zwischen Raum und Thema oszillieren.