sans papiers – Das Leben ist eine Reise, Teil 3.1
2017
Anri Sala, Amer Akel
Ausstellung, 30. Juni – 15. Juli 2017
Anri Sala (ALB): Le jour de gloire
Wie sehen klingende Äpfel aus? Anri Sala komponiert mit dem Bildsujet des Apfels in seinem neuesten Werk „Le jour de la gloire“ das zentrale Motiv der französischen Nationalhymne, der Marseillaise. In einer Zeit, wo Frankreich in einem gespaltenen Europa gerade neue Wege aufzeigt, scheint diese Koinzidenz mehr als eine Anspielung zu sein.
Vielschichtig wie das Werk von Anri Sala grundsätzlich ist, sind auch die im Kurt-Kurt ausgestellten Bilder entstanden. Die abgebildeten Apfel-Bisse stammen von geflüchteten Kindern. Ähnlich einem Fingerabdruck sind sie alle individuell und absolut einmalig.
Anri Sala hat im Sommer 2016 im Projektraum Kurt-Kurt während eines dreitägigen Workshops zusammen mit geflüchteten Kindern, ihren Eltern und einer Crew von Fotografen, Assistenten, Kunsterzieherinnen, einer Köchin und Kurt-Kurt die Basis für seine Werkgruppe gelegt. Die vielen Kinder haben mit ihrem Biss in den Apfel den Ausgangspunkt geschaffen für den darauf aufbauenden vielschichtigen, malerisch-zeichnerischen Prozess des Künstlers. Nach dem Fotografieren wurden die Äpfel zu Marmelade und Apfelmus verarbeitet. Jede Familie, jedes Kind nahm dieses Souvenir als kulinarische Erinnerung an die Aktion mit zurück in die Flüchtlingsunterkunft.
Die Arbeit „Le jour de la gloire“ hängt nun exakt an der Wand, wo sich vor einem Jahr der Künstler und die Kinder kennengelernt und zusammengearbeitet haben.
Aufgeladen mit verschiedenen Geschichten erzählt uns die Werkgruppe „Le jour de la gloire“ sowohl vom einmaligen Tag der Herrlichkeit, verweist aber gleichzeitig immer auch auf die kulturellen, historischen, religiösen und aktuellen Geschehnisse/Begegnungen, die hier im wortwörtlichen Sinne auf den Punkt, beziehungsweise die Punkte gebracht worden sind: Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, Vereinigung und Vereinzelung, Entfremdung und Zugehörigkeit, Identität und Integration, Neuanfang und große Ungewissheit wird durch die Ambivalenz des Apfels als Symbol wiedergespiegelt.
Amer Akel (SYR): Soap is good
Soap is good. Seife ist gut. Amer Akel nimmt diese Aussage im künstlerischen Sinne ernst und benutzt Seife als Material für seine Skulpturen und installativen Arbeiten. Die Formen und Bilder, die er durch das subtraktive Verfahren aus 1000 Stück Seife heraus schält, können z.B. ein Maschinengewehr oder ein menschlicher Körper sein. Irritiert von den unterschiedlichen Signalen – Duft der Seife, Bild und Haptik – , stehen wir als Betrachterinnen vor der Aufgabe die unterschiedlichen sinnlichen Wahrnehmungen zu sortieren, zu lesen und für uns zu interpretieren. Wir sind von Amer Akel sogar eingeladen, die Arbeiten zu berühren, sie sprichwörtlich zu begreifen und auch aktiv zu verändern. Für Amer Akel ist diese “älteste” Seife der Welt aus Aleppo mehr als ein Arbeitsmaterial. Diese Seife und vor allem ihr Geruch ist für ihn unzertrennlich verbunden mit seinem Zuhause in Syrien, wo es sie immer gab, so lange er sich erinnern kann. Heute wird die seit über tausend Jahren hergestellte Seife immer noch von Hand in Aleppo produziert und widerspiegelt die sehr alte Zivilisationsgeschichte dieser Region. Es fällt uns schwer, diese angenehm leicht duftende Loorbeer-Olivenöl-Seife aus Aleppo mit den Bildern der vom Krieg gezeichneten Stadt zu verbinden. Genau hier setzen die Arbeiten von Amer Akel an. Diese unüberwindbare Differenz thematisiert er mit seinen Werken, die in der Ausstellung bei Kurt-Kurt auch zur Interaktion einladen und den Betrachterinnen die Möglichkeit geben neben dem Schauen und Denken auch noch andere Erfahrungen zu machen.
Und wir fragen uns: Schafft es Syrien und insbesondere Aleppo und seine alte Tradition die Spuren des Krieges, der eines Tages auch wieder vorbei sein wird, zu überleben? Wird der Duft der Seife dann den Geruch des Schießpulvers übertönen können?
Wenn dem so ist, wird die Kraft der Zivilisation über die Systeme der Macht triumphieren.